1.XI.1914 „Die Kriegserklärung der Türken hat uns sehr gefreut“

Wolfgang Husserl an M. und E. Husserl, 1. XI. 1914

… Unser Leben ist ziemlich einförmig, immer liegt man im Schützengraben. … Ab und zu hat ein Zug Ruhetag im Gutshof hinter der Schützenlinie, wir schlafen dann auf Stroh in einer Scheune, was eine große Wohltat ist. … Ich habe mich gewaschen und die Füße in die herrlichen neuen Fußlappen gehüllt. Da das Seebataillon wieder abgerückt ist, führt unsere Kompanie der tüchtige Feldwebel, das Bataillon führt Hauptmann Bratsch, das Regiment unser Major. Hier auf dem Gutshof sieht es recht traurig aus, zwanzig Schweine Opa17ablaufen auf dem Hof herum und im Hause herrscht ein richtiges Durcheinander.

Eine Stube ist als Büro eingerichtet, da werden die Verlustlisten festgestellt. Dr. Clemens* ist vermisst seit dem Gefecht am 21., d.h. zu 90 % Wahrscheinlichkeit schwer verwundet, schwer verwundet gefangen. Bitte das Professor Andreas* wissen zu lassen. Dr. Niese ist jetzt unser bester Kamerad, ein ganz famose Mensch. Er führt als Historiker das Tagebuch der Kompanie und genießt großes Ansehen.

In dem Telegramm vom Wolffschen Büro vom 21. hieß es: „Unsere Truppen drangen siegreich nach Ypern vor“. Das sind wir gewesen.

Cover om Amtliche Kriegs-Depeschen nach Berichten des Wolff'schen Telegr.-Bureaus vol. 1-3
„Amtliche Kriegs-Depeschen nach Berichten des Wolff’schen Telegr.-Bureaus“

22. 10.14 Ypern Pages from Amtliche Kriegs-Depeschen nach Berichten des Wolff'schen Telegr.-Bureaus vol. 1

 

 

 

 

 

 

 

 

Es ist übrigens nicht wahr, dass die Truppen im Felde über die Kriegslage gänzlich im Unklaren gelassen werden, wir jedenfalls nicht. Jede Neuigkeit wird uns entweder offiziell im Tagesbefehl der Division oder so vom Feldwebel mitgeteilt. Die Kriegserklärung der Türken hat uns sehr gefreut. Dass der Islam sich regt, dazu hat Professor Littmanns* Aufruf sicher etwas beigetragen. Sehr betrübt hat mich die Nachricht, dass Klauber gefallen ist, ich mochte ihn sehr gern. – Die Kriegschroniken machen uns Kameraden viel Freude, geben außerdem gutes Lokuspapier ab. Bitte um Schal, Handschuhe (!!), Natron, Tintenstifte …


* Rudolf Clemens studierte ab SS 1910 Theologie. Er war Mitglied der Göttinger Philosophischen Gesellschaft und besuchte im Jahr 1912 auch Seminare Husserls. Husserl zählte ihn zum Phänomenologen-Kreis.

* Der Göttinger Orientologe und Iranist Professor Friedrich Carl Andreas.

* Enno Littmann (1875-1958), seit 1914 Professor für morgenländische Sprachen in Göttingen. Wolfgang Husserl hatte sein Studium bei ihm begonnen. – Wolfgang bezieht sich wahrscheinlich auf die folgende Veröffentlichung Littmanns: „Der Krieg und der islamische Orient“,  in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft Kunst und Technik, 5.Heft 1914, Verlag von B.G. Teubner, 1914, S. 281-408.

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