Gerhart Husserl an Elli Husserl, 28. II. 1915
Liebe Elli! Oostnieuwkerke, 28.2.15
Die Sonne scheint in die Bude, dass man kaum schreiben kann. Mir wird zu warm in meinen vielen Hüllen, zumal ich im Lehnstuhl hinterm Ofen platziert bin, während die anderen mit Hallo am Tisch unserer schönen Küche ihren Skat kloppen. Heute früh Mamas Brief, gestern Eure ersten Nachrichten nach Bekanntwerden des Ereignisses vom 20. Ich very glad, dass Ihr die Sache so objektiv hinnehmt. Du scheinst mir am pessimistischsten. Es ist wirklich kein Grund mehr zu Besorgnissen. Wolfgang fühlt sich ganz wohl, hat kaum Schmerzen und wird wohl bald transportfähig sein. Man trachtet das Lazarett hier tunlichst zu entleeren, um es für vermutlich zahlreiche Verwundete in der Folgezeit freizumachen. Denn es wird hier – daran ist nicht mehr zu zweifeln – in aller Bälde vorwärtsgehen. Das 27. Korps greift bereits dieser Tage an. Ypern soll unbedingt genommen werden. Wir haben bereits den größten Teil unsrer Artillerie nach links zur Beschießung von Ypern freigegeben. …
Habt ihr Theibachs Brief bekommen? Er besucht Wolfgang andauernd und ist auch mir ein wichtiger Protektor. Trotz seiner Verwendung beim Leutnant werde ich allerdings beim nächsten Mal noch nicht Gefreiter werden. Der Leutnant hat allerdings vor, mich noch bis zum Unteroffizier zu bringen, wenn er die Kompanie behält. Es ist nicht gerade angenehm, Korporalschaftsführer zu sein ohne Charge. Na, schließlich egal! – Mein persönliches Befinden hat sich auffallend gehoben. Über mein Herz kann ich nicht klagen. Vielleicht hat gerade die Aufregung am 20. gut getan. Als wir beim Weg aus dem Graben beschossen wurden – es war schon ganz hell und wir boten freies Ziel –, das war wohl die ekligste Klemme im ganzen Feldzug. Die beiden haben ihr Eisernes Kreuz redlich verdient. Dass ich es als Bruder nicht bekam, ist nur gerecht, denn grad was bei den Andern freiwillige Bravour <war>, war für mich einfache Bruderpflicht. Vorgeschlagen hat in diesem Falle überhaupt nicht die Kompanie, sondern das Bataillon.
Gleich kommt Runge zum Schachspielen. Zum Lesen bin ich fast zu faul. Ich bin nun ganz auf mich allein gestellt, und diese Vereinsamung stärkt mich. Menschen, die durch Schmerz, heftig akute Ereignisse zusammenbrechen, sind schwächlich. Wann wir uns wiedersehen?
Grüße die deutschen Bücher und Bäume und Häuser!
An alle herzlichst, Gerhart