Wolfgang Husserl an M. Husserl, 1. II. 1915
Liebste, beste Mama! Ostneukirchen, 1.2.15
Es hat uns außerordentlich leidgetan, dass Du krank warst und wohl auch jetzt noch etwas herunter bist. Du machst Dir gewiss Sorgen um uns, was gänzlich unnötig ist, wo es uns ja den Umständen nach gut geht und wir mit allem gut versehen sind. Das Einzige, was uns fehlt, ist die Aussicht, dass dieser Krieg irgendwie und -wann endigen wird. In diesem Brief kann ich Dir nicht viel erzählen, da nichts los gewesen ist, ich will nur alle Anfragen in Deinen Briefen vom 15.-26. beantworten, was ich bei der großen Bummelei, der ich bei den hier herrschenden unerquicklichen Zuständen verfallen war, versäumt hatte. … Mit Dr. Niese sind wir seit Monaten wenig zusammen, weil er eine Korporalschaft führt und im 3. Zug war. Jetzt ist er wieder im 1. … Kopfschützer tragen wir immer, wenn es kalt ist, zumal auf Posten vermumme ich mich noch mit drei Schals und meiner wollenen Decke, dass Du mich gar nicht erkennen könntest. So kalt ist es nicht, dass man sich was erfrieren kann, höchstens die Füße, da gibt es aber auch kein Abwehr- noch Heilmittel. Ich laufe auch mit zwei erfrorenen Zehen herum, das ist mir aber ganz egal und geniert mich nicht viel. … Theibach führt den 2. Zug. Er ist Feldwebel, das 1. Bataillon führt Major Bratsch, auf den wir nicht gut zu sprechen sind, das 2. <Bataillon> Hauptmann Hattendorf, Ritter des Eisernen Kreuzes 1. Klasse. Den Kröner müsst Ihr erst anfahren, dass Euch nicht gleich besucht hat und dann mit Freundlichkeiten überhäufen. Er war einer unsrer aller, allernächsten Kameraden und kann Euch über alles Auskunft geben. Ich habe niemals von Oberstabsärzten, das sind Leute, die hinter der Front sich befinden, sondern von Stabsärzten gesprochen. Wenn der Stabsarzt einen mit einem schweren Herzleiden rausschmeißt, kommt er dem Oberstabsarzt überhaupt nicht unter die Augen. Unserer hat übrigens auch Anfälle von Mitleid. Beim Impfen – wir sind alle 2 Mal gegen Typhus geimpft, sagte er zu Hippel: „Sie sehen beschissen aus, kommen Sie morgen aufs Revier“, wo er dann Herzbeschleunigung feststellte und ihm 2 Tage völlige Schonung gab. Ich habe gestern mit Passow und Hippel einen gemütlichen Sonntag verlebt. Denkt ja nicht, dass alles, was in Feindesland ist, im Felde steht. Nur wer in vorderster Gefechtsfront steht, kennt den Krieg, wer hinter der Front ist, hat es besser als zu Hause. Was haben hier die Pferdeburschen für herrliche Quartiere: Fensterscheiben mit Gardinen, Wohnstuben mit allem Hausrat, nichts zu tun, viel Geld und wenn sie dann nach Hause kommen, heißt es, sie waren im Felde gewesen. Ein sehr gutes, um nicht zu sagen bequemes Leben führen die Offiziere in und hinter der Front, nur der gemeine Mann, der alles Widerwärtige tun und aushalten muss, hat es schlecht, obgleich die hohen Herren Offiziere sicher sich bemühen, gut für uns zu sorgen. Die Herren bilden sich gewiss ein, dass die Ruhetage für uns sehr genussreich waren, haben von den wirklichen Verhältnissen natürlich keine Ahnung. Über manche Zustände herrscht große Erbitterung.
Deine Ratschläge über Alkohol sind gut gemeint. Du weißt aber nicht, wie das hier zugeht. Es gibt leider immer welche, die mal besoffen sind, an denen hat man immer ein warnendes Beispiel. – Wenn wir Oskar verloren, haben wir noch Gustav (Werner), ein ganz famoser Mensch, 38 Jahre alt und hat so und so viel Kinder, ein freier, stolzer, deutscher Landwirt und guter Kamerad.
Wolfgang
Über Beförderung schreibe ich nicht, sonst sagt Ihr ich schimpfe. Heute Abend geht es in den Graben.