5.XII.1915 „Vorgestern Abend eine wüste Schießerei“

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Wolfgang Husserl an M. und E. Husserl, 5. XII. 1915

Liebe Eltern!                                              5. Dezember 15. Feldwache, Schanze 5

Mit einem Schlage hat sich das Bild der Schanze und das Leben geändert. Jetzt ist es Winter geworden, d.h. die Regenperiode hat begonnen. Der ewige Regen hat etwa so gewirkt wie ein 70-stündiges Trommelfeuer. Jetzt rächt sich bitter die unaufhaltsame Rast, mit der ein Graben nach dem andern gebaut wurde, ohne den zuerst angefangenen fertigzustellen. … Die angefangenen Unterstände ertrinken, so mein Betonunterstand. Die Entwässerungsanlagen versagen nicht, aber sie reichen auch nicht. Sie vermögen die Ströme nicht zu fassen. Einzelne Gräben sind völlig versoffen. Im vordersten Graben watet man stellenweise einen halben Meter tief im Wasser. Die Wände sind zum Teil mit der Verkleidung (der Maschendraht bildet da große Bäuche) eingerutscht und versperren den Weg, so dass sich große Seen bilden. Wir haben schon 60 Unterseeboote und 350 Schwimmgürtel beim Pionierpark angefordert. Schlamm ist auch viel da. Das Versöhnliche an der ganzen Sache ist, dass, wenn der Schlamm und das Wasser noch so tief ist, man doch niemals versinkt, da überall die Sohle mit Rosten verlegt ist. Mein Ressort ist, eingestürzte Wände in Ordnung zu bringen, eine Heidenarbeit, da man nicht weiß, wohin mit der Erde. Es liegen nämlich überall Äste rum, weil hier früher ein Wäldchen war. Die anderen beiden Herren pumpen. Dass wir die beiden Stollen erhalten können, glaube ich nicht. Im Laufe des Winters werden wohl alle ertrinken. Jetzt pumpen wir elektrisch, was Zeug hält. In den Unterständen regnet es durch, so hier auf Feldwache, ut figura docet. Wir haben heute auch keinen Ruhetag, um uns „über Wasser zu halten“. Manche Gräben fallen nicht ein, sondern die beiden Wände schieben mit Verkleidungen und Pfählen zueinander, bis sie sich berühren. Der Druck einer großen Erdscholle ist ungeheuer. Das ist bei dem Tonboden der Fall. Gegen diese Gewalten sind wir machtlos. So ist ein Stolleneingang (das ist ein breiter tiefer Graben, der in den Berghang, in den Stollen hineinführt) zusammengerutscht. Es blieb nur ein kleines Loch, aus dem die Leute auf allen Vieren rauskriechen mussten. Die Wege außerhalb der Gräben, die wir ja meistens benützen, sind ebenfalls völlig verschlammt. Nasse Füße habe ich stets, und stets bin ich von oben bis unten mit Lehm beschmiert. Und immer strömt es. Den Regenumhang trage ich nicht. Das Wasser senkt sich im Stoff <nach> unten und nässt und beschmiert die Kniee. Ich trage nur eine doppelt zusammengelegte Zeltbahn um die Schultern, in der Hand einen Knotenstock, die alte Mütze tief ins Gesicht gezogen und lasse mich nass regnen. Zwischen gutem und schlechtem Anzug kann ich keinen Unterschied mehr machen. Ich muss eben den einen tragen, wenn der andere nass ist. Die Stiefel sind noch nicht wasserdicht. Solange aber das Wasser nicht oben in die Schäfte fließt, geht es noch. Die Orne ist über ihre Ufer getreten und wird wohl bald die Brücke, die uns mit Etain verbindet, wegreißen.

Die Franzosen benehmen sich recht eigenartig. Vorgestern Abend eine wüste Schießerei. Ich glaube, die Leute greifen an und ich schlüpfe bloß in die Schnürschuhe (meine nassen Quanten hatte ich ausgezogen) und eile, wie ich bin, in Drillichjacke durch Dreck und Wasser zur Feldwache. Auf Schanze II hatten sich etwa 60 Franzosen dem Drahtverhau genähert. Was sie eigentlich bezweckten, ob sie feststellen wollten, ob wir die Stellung wegen Wassers aufgegeben hätten, oder eine Art Handstreich ausführen wollten, wissen wir nicht. Und das Tollste kommt jetzt. Gestern Abend erfahren wir durch das famose Telefon, dass die Franzosen einen Überrumpelungsversuch für heute Morgen, natürlich in Dunkelheit, angesetzt haben, die Wachen werden verstärkt. Nach 3 Uhr muss alles wach sein, die Kompanie hält sich gefechtsbereit, die Maschinengewehre sind alarmiert, ich als Wachhabender treffe besondere Maßnahmen und freue mich, dass sie nun endlich mal kommen, ich stehe zwei Stunden draußen und beobachte mit 2 Handgranaten am Koppel und der Leuchtpistole in der Hand – und die Schweine kommen nicht. Ist das nicht gemein?!!

Onkel Heinrich schickte mir Zigaretten, ich dankte gleich. Mamas Brief freute mich sehr. Ich hoffe sehr, dass die Folgen des Falles bald überwunden sind. Bitte viel Strümpfe. Und auch Fußlappen wie früher. Bitte Honigkuchen!

Eben erfahre ich, dass der gestrige Alarm auf die Nervosität der Division zurückzuführen ist. Der Divisionskommandeur von drüben ging durch die Stellung und sagte, das wäre ein Wetter für einen Handstreich, d.h. er wollte seine Leute ermahnen, gut aufzupassen. Das wird durch das Telefon gehört und wir denken, die Franzmänner wollen uns überrumpeln, und dabei haben die die Hosen gestrichen voll, da wir ihre Patrouille so abgeschmiert haben, dass wir es nicht tun. Das Telefon ist ein Unglück. Die Leute werden dadurch nur irritiert.

Adieu.

W., in bester Stimmung.

<Nachschrift zum Brief vom 5. Dezember>

Die Schießvorschrift, die so fein geklebt ist, freute mich sehr. Viel werde ich nicht drin lesen. Ich habe auch noch 4 Stunden Nachtarbeit, wo ich dabei sein muss. Die Kompanie bekommt täglich 30 Armierungsarbeiter. Mir gefallen sie nicht. Meist schwächliche Großstädter. Man möchte fast glauben, körperliche Mängel schließen auch geistige und seelische in sich. Einige graubärtige Kriegsfreiwillige sind unter ihnen.

Bitte Pantoffeln, die richtige Sohlen haben. Hier im Zimmer, wo wir mit den lehmklumpenbehafteten Stiefeln hineinkommen, ist’s nicht so sauber wie unsere Parkettfußböden.

Jetzt tut es mir leid, dass ich nicht gleich geschrieben habe, als ich vom Urlaub kam. Aber da hätte ich nicht so ausführlich werden können.

Wenn man Humor hat, geht die Sache hier. Ich stehe mit dem Oberleutnant jetzt vorzüglich. Ich bin oft mit ihm allein zusammen und wir besprechen scherzend und ernst unsere Nöte auf Schanze V. Er sieht jetzt wohl, dass ich es ernst mit der Erfüllung meiner Aufgaben meine und meine Stellung nicht als eine Sinekure betrachtet.

Herzlichst,

Wolfgang

Bitte einen Schuhanzieher!!!!

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