Überblick

Wolfgang Husserl wird am 18.Oktober 1895 in Halle geboren. Knapp sechsjährig zieht er mit seinen Eltern nach Göttingen, wo er die meiste Zeit seiner 20 Lebensjahre verleben wird. Im August 1914 werden er und sein zwei Jahre älterer Bruder Gerhart zum Kriegsdienst eingezogen; die etwa vier Jahre ältere Schwester Elisabeth leistet Lazarettdienst.

Soldat Wolfgang HusserlDer Vater, Edmund Husserl, zeigt sich zu Kriegsbeginn, wie viele andere, begeistert und voller Stolz. Er schreibt an seinen Bruder in Wien: „Die Mobilisation hat sich in bewunderungswürdiger Weise vollzogen, es war herzerhebend zu sehen, wie diese strammen prächtigen Regimenter, immer neu gebildet, hinauszogen. Was hier alles geleistet wird – dieses Opferwilligkeit in allen Volkskreisen, diese Zuversicht, dieser feste Wille zu siegen oder zu sterben <. . . > – all das ist unvergleichlich. Dieses Deutschland ist unbesiegbar!“ (Husserl-Briefwechsel Bd. IX, S. 289)

Am 20. Februar 1915 wird Wolfgang durch einen Lungenschuss erstmals schwer verwundet, kehrt aber bald wieder zurück ins Kriegsgeschehen, und zwar diesmal nach Etain, das etwa 20 km nordöstlich von Verdun liegt.

Der Vater erkundigt sich unmittelbar nach Bekanntwerden der heftigen und verlustreichen Kämpfe um Verdun beim kommandierenden Generalleutnant Dr. Erich von Guendell nach dem Schicksal seines Sohnes Wolfgang. Am 12. März 1916 erhält die Familie durch von Guendell, der noch im Sommersemester 1914 bei Husserl als „eifriger und dankbarer Hörer“ studiert hatte, die „Todesbotschaft“: „Hochverehrter Herr Professor. Es tut mir von ganzem Herzen leid, dass ich Ihre gütigen Zeilen vom 8. d. mit der schmerzlichen Nachricht von dem Heldentod Ihres braven Sohnes beantworten muss. In derselben Stunde, in der ich Ihren Brief empfing, erhielt ich die Gewissheit, dass Ihr Sohn am 8. März von einem Schuss in den Kopf und einem anderen in das Bein getroffen, seine Treue gegen sein Vaterland mit dem Tod besiegelt hat. <. . . > Wir alle trauernden Eltern können unseren einzigen Trost in der Hoffnung finden, dass unsere Heldensöhne nicht umsonst dahingehen, sondern dass unsere Opfer gebracht werden müssen zum Segen des Vaterlandes. <. . . > Von Herzen wünsche ich, dass Ihr ältester Sohn Ihnen gesund erhalten bleiben möge.“

An eine entfernte Verwandte schreibt Husserl im September 1919:  „Du weißt wohl schon, dass unser über alles geliebter Wolfgang in den Kämpfen um Verdun gefallen ist, in reiner Hingabe für sein Vaterland.“ Der Tod des Sohnes lässt Husserl aber auch an der zu Beginn des Krieges noch bejahten Opferwilligkeit zweifeln, wie es in einem Manuskript Mitte der 1920er Jahre zum Ausdruck kommt: „Für die Mutter ist ihr Kind, das ihr Krankheit und Tod entrissen, unersetzbar. Handelt es sich um den Kampf nationaler Selbsterhaltung, so kann sie das Kind opfern, aber der Verlust ist doch unersetzlich. Immerhin nur dadurch, dass überhaupt die Einzelnen ihr Leben einsetzen und willentlich die im Kampf voraussichtliche Wahrscheinlichkeit des nahen Todes auf sich nehmen, kann das Vaterland gerettet werden. Der auf das Kind gerichtete Lebenswille ist gebrochen, und doch nicht wirklich vernichtet: sofern die Liebe, die vom Ich nicht abzutrennende willentliche Entschiedenheit nur ihren Modus geändert hat. Wille als realisierender Wille ist unmöglich, aber die innere Entscheidung ist nicht wegzuschaffen. Aber immerhin, das Opfer erscheint hier notwendig, oder kann so erscheinen. Man beugt sich dem Schicksal zugunsten eines Höheren, das bewusstseinsmäßig als das Vorzüglichere gewählt werden muss unter Opfer. Aber ist das Leben überhaupt und die Welt von der Art möglich, dass es konsequent ethisches, konsequent sich in der Entscheidung für das Gesollte befriedigendes Leben sein kann, ein durch Opfer und eventuell immer neue schwere Opfer erkauftes Leben ‚ethischer‘ Erfolge, in dem eine Welt, eine echte, schöne Welt wahrer Werte, erblühen würde, sich durch menschliche Tat gestalten würde?“

14 Jahre nach dem Tod Wolfgangs, im März 1930, bereitet die Tochter Elisabeth ein besonderes Geburtstagsgeschenk für ihre Mutter vor. Zum 70sten Geburtstag der Mutter sammelt sie nicht nur Erinnerungen an ihren Bruder aus dem Freundes- und Verwandtenkreis, sondern schreibt auch die zahlreichen Briefe ab, die die Söhne aus dem Krieg an ihre Familie geschickt hatten. Exakt 100 Jahre nach ihrer Niederschrift sollen hier Briefe aus dieser Korrespondenz, die mit dem Tod von Wolfgang am 8. März 1916 endet, zum ersten Mal bekannt gemacht werden.

Bevor der erste Brief vom 14.Oktober 1914 wiedergegeben wird, zunächst ein Überblick über die Kriegszeit der Husserl-Söhne (verfasst von Elisabeth Husserl im April 1933):

“Der jetzt in Kiel beurlaubte Professor Gerhart Husserl meldete sich zusammen mit seinem Bruder Wolfgang am 2. August 1914 freiwillig beim Göttinger Infanterieregiment und wurde mit fast allen seinen Freunden und Schulkameraden der 3. Kompanie des Res. Inf. Regt 234 zugeteilt, das Anfang Oktober vor Ypern geworfen wurde und die berühmten Stürme bei Langemarck zwischen dem 20. und 30. Oktober und am 10. Nov. mitmachte. Im Februar 15 wurde Wolfgang durch einen Lungensteckschuss verwundet und unter Lebensgefahr von Gerhart und 2 Kameraden aus dem feindlichen Feuer getragen, der eine erhielt dabei einen Beckenschuss. Etwa ein Jahr später wurde Gerhart Husserl, der sich durch besonders aktives Handeln bei Patrouillen usw. ausgezeichnet hatte (Leutnant und Eisernes Kreuz I), durch einen Kopfschuss schwer verwundet. Nach glücklicher Operation (Trepanation der Hirnschale und Entfernung der Granatsplitter in Sedan) wurde er nach vielmonatlicher Lazarettbehandlung als dauernd nur garnisondienstfähig dem Ersatzbataillon Kassel als Gerichtsoffizier zugeteilt. Inzwischen hatte sich Wolfgang Husserl, kaum genesen, aufs Neue ins Feld gemeldet. Um den Feldzug in Gemeinschaft mit seinem ehemaligen Gymnasialprofessor, Hauptmann d. R. Henkel, mitmachen zu können, ließ er sich von den 234 zum Res. Inf. 19 19 versetzen, das dem Armeekorps des Kommandeur General von Gündell unterstellt war, und vor Verdun lag. Hier fiel Wolfgang Husserl 20jährig beim Sturm auf Fort Vaux als Offizier an der Spitze seines Zuges am 8. III. 16. 2 Jahre nachdem sein einziger Bruder gefallen war, als der Krieg im Frühjahr 1918 in sein letztes verzweifeltes Stadium gerückt war, ging Gerhart Husserl wieder freiwillig ins Feld. Da er infolge der verletzten Hirnschale keinen Stahlhelm tragen durfte, rückte er mit der Feldmütze bei seinem alten Infant. Regiment, den 234, als Kompanieführer ein, wurde gleich Regimentsadjutant und machte die verlustreichen Kämpfe bei … mit, bei denen er vorübergehend auch ein Bataillon führte. Am 30. September 1918 wurde er ein 2. Mal durch Kopfschuss verwundet, diesmal büßte er die Sehkraft des linken Auges auf immer ein. Die Erholung ging schwer und langsam vor sich, der militärische Zusammenbruch Deutschlands und die Hungersnot erschwerten die Rekonvaleszenz und verzögerten sie immer wieder. Dennoch gelang es Husserl nach vielen Monaten wieder, sich mit ganz ungewöhnlicher Energie zur Durchführung seiner juristischen Ausbildung aufzuraffen und seinen Doktor und Assessor sogar mit Auszeichnung zu bestehen. Husserl, der sich nie politisch betätigt und keiner Partei angehört hat, ist diese Woche auf Grund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums beurlaubt worden.

Schreibe einen Kommentar