Wolfgang Husserl an Elli Husserl, 14. I. 1916
Liebe Elli! Etain, den 14.1.1916
Gestern erhielt ich aus Karlsruhe die Nachricht, dass Papa den Ruf nach Freiburg angenommen hat. Die Gefühle, die ich habe, sind gemischt. Zunächst freue ich mich sehr, dass Papa eine Anerkennung seiner Arbeit auch in dieser Form zuteil wurde. Aber bedauerst Du nicht auch, dass wir unser schönes Haus, unsere zahlreichen Bekannten und Freunde, kurzum unsere Heimat verlassen müssen? Es tut mir leid, dass ich, wenn ich diesen Krieg glücklich überstehe, nicht nach Göttingen, sondern nach dem fremden Freiburg zurückkehren soll. Na, die Freude des Wiedersehens wird aber, denke ich, solche Gedanken gar nicht aufkommen lassen. Was wird nun aus Dir werden? Wirst Du in Göttingen Deine Verwundeten weiter pflegen? Du weißt nicht, wie stolz ich auf Dich bin. So schön, dass wir drei uniformiert sind. Ich glaube, Du hast es viel schwerer als wir hier draußen im friedlichen Stellungkrieg. Ich sitze hier in einem ebenso schönen Zimmer wie zu Hause, schlafe in einem richtigen Bett, habe elektrisches Licht, mehr Bedienung, sehr gutes Essen und leider Gottes in der letzten Zeit sehr wenig zu tun. Man muss sich schämen, wenn man bedenkt, wie gut man es hat. Ich verbrachte die meiste Zeit in fröhlicher Gesellschaft, abends saßen wir oft bis Mitternacht bei alkoholischen Getränken (meist tranken wir Sekt und Rotwein). Wenn wir auch oft in heiterster Stimmung waren, haben wir doch immer vernünftige Gespräche geführt und uns ernst unterhalten, wobei ich viel lernte. Leider, leider ist heute die 1. Kompanie abgelöst und die 15. kommt wieder runter. Oberleutnant Alt hat 10 Tage Urlaub. Das Korps ist furchtbar schäbig mit Urlaub und streicht einem immer noch ein paar Tage ab von dem, was man eingereicht. Herr von Gündell ist in der Beziehung einfach scheußlich.
Eine herrliche, gemütliche Zeit liegt jetzt hinter mir und gute Freunde habe ich mir auch erworben. Nichts ist schöner, als wenn man mal prächtige Menschen findet.
Ich lese viel in meiner freien Zeit. Lateinische Klassiker (Tacitus „Germania“) und Mörike.
Das Wetter ist sehr schlecht, so dass die Orne wieder über ihre Ufer getreten ist. Die Schanzen sind jetzt aber einigermaßen entwässert, so dass die Gräben meist passierbar sind. Die Artillerietätigkeit ist in den letzten Wochen lebhafter geworden. Unsere Mörser (21 cm) und Haubitzen (15 cm) haben reichlich Munition bekommen und halten den Franzmann ziemlich nieder, der zwar jetzt auch mehr schießt – der Riegel und Etain kriegen fast täglich Salut mit 12 cm und Etain mit Schrapnells –, aber dann sofort schwere Dinger auf seine Schanzen und Dörfer bekommen <hat>. Das Regiment hat in den letzten 14 Tagen auch 3 Tote gehabt. Sonst nichts Neues. Wir warten alle auf unsere Frühjahrsoffensive. Wenn Du Geld brauchst, schreibe es mir bitte.
W.