9.X.1915 „Dass der Krieg bald alle ist, glauben wir nicht“

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Wolfgang Husserl an M. Husserl, 9. X. 1915

Liebe Mama!                                       9. Oktober 15

… Dass Gerhart nicht befördert wurde, tut mir sehr leid. Mein schnelles Fortkommen wird ihn sicher kränken. … Ich hoffe sehr, dass Papa sich gänzlich in dem Höhensanatorium erholt. Sollte der Krieg Papas Arbeitskraft geschmälert haben, so wäre das nicht der geringste Schaden, den er der Kulturentwicklung zufügte. – 50 M<ark> erhalten, vielen Dank. … Dass der Krieg bald alle ist, glauben wir nicht. Auf ein Jahr muss man noch rechnen. Wir sollen die Stellung nach einem neuen Plan ausbauen, mehr Unterstände auch in den hinteren Linien. Im Mai (!) soll das fertig sein, sagte der Brigadekommandeur.

Gestern räumte ich die Bibliothek des Pfarrers von W. auf, dessen Haus zufällig unversehrt ist, als einziges. Er hat die ganze antike Literatur, meist in französischen Übersetzungen, ferner Goethe, E. T. A. Hoffmann, Scott und die modernen französischen Romane, Dumas, Balzac etc., und viele naturwissenschaftlichen Werke (Lamarck) und Wörterbücher. Jetzt habe ich genügend Lektüre. Virgil, Ovid, Biblia hebraica und Tacitus habe ich mir rausgesucht. Im Thukydides lese ich auch noch eifrig und in den „Kriegserfahrungen über Feldbefestigungen“, dem Büchlein, das den Truppenteilen zur Belehrung überwiesen wurde. Hauptmann Henkel lässt Papa gute Erholung wünschen.

Gruß,

W.

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