22.XI.1914 „Es geht so verdammt gar nicht vorwärts“

4395839835_4a2602e5c1_oGerhart Husserl an M. und E. Husserl, 22. XI. 1914

Liebe Eltern!

Gestern viele, viele Post. … Sind 2 Tage im Schützengraben und 2 Tage drinnen, immer abwechselnd. Unsre Stimmung ist gut. … Den Abend lud mich der Kompanieführer ein, mit ihm zu essen, da saßen wir bis Mitternacht und tranken und sprachen, bis das Licht verlosch.

Gerhart.

                 Gerhart Husserl an M. und E. Husserl, 22. XI. 1914

… draußen knallen die Kugeln und Granaten und da redeten 2 deutsche Akademiker vom Marburger Studentenbetrieb, von Philologie IMG_3605und Examina. Und dann immer die Rede vom großen Krieg, der uns alle so neue große Gehirnfalten einbrennt. Ich will Euch nicht verhehlen, dass wir hier die Lage im Allgemeinen ziemlich pessimistisch beurteilen. Es geht so verdammt gar nicht vorwärts. Wir sind im selben Graben, den wir vor einem Monat auszuheben begannen, unterdes hatten ihn andere Truppen besetzt und ausgebaut. Vor uns wieder viele Leichen Gefallener vom abgeschlagenen Sturm. Was bei Sturmangriffen alles draufging, ist kaum zu sagen. Unsere Kompanie hat bis jetzt gerade 136 Mann Verluste, ça suffit. Was alles passiert: Wir liegen hier nachts im Haus, auf einmal kracht ein Schuss durch die mit Zeltbahn verhängte Tür und trifft einen Mann, der am Boden hinter dem Herd liegt. Scheinbar ein Oberschenkelfleischschuss, aber es war ein Dum-Dum, ein Splitter kam in den Magen und in 5 Stunden war der Mann tot. Überhaupt ist man im Graben sicherer als im Dorf. Jetzt schleppen wir noch Öfen nach vorn und richten uns für den Winter ein. Denn eben kommt der Befehl, sich für lange Zeit hier einzurichten. Man will Viehbestände anlegen, bombensichere Reserveunterstände bauen und hier einen geregelten Betrieb einrichten. Es gibt pro Kompanie 6 Schafpelzmäntel, die den Wachen gegeben werden, feudale Dinger sage ich Euch.

IMG_3835Wir sind der Hoffnung , dass die Engländer den 10. November, wo unser Sturm misslang (es war schrecklich, wir allein verloren über 50 Mann, 21 Tote, 30 Verwundete) büßen werden. Laut Armeebefehl mussten sämtliche Tagebücher vernichtet werden. Schade! Wilhelm Runge sehe ich öfter, er ist wohlauf, dito Fr<anz> Runge, Mannkopff, Smend, Hermann , v . Hippel, Passow.

Herzlichste Grüße Gerhart.

 

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