29.XI.1915 „Nöldeke … ist als Gelehrter mein Vorbild und ich fühle mich als seinen Schüler“

Theodor_Nöldeke

Wolfgang Husserl an M. und E. Husserl, 29. XI. 1915

Liebste Eltern!

Feldwache der Schanze 5, den 29.11.15

Eine Woche den Briefverkehr nach Hause einzustellen, geht doch nicht, da sich wieder einiges, wenn auch nichts Welterschütterndes ereignet hat. Die Reise von Saarbrücken hierher klappte ebenso gut wie alles Übrige. In Conflans aß ich gekochtes Rindsherz zu Abend, was sehr gut schmeckte. … In Baroncourt stand am Zug der Mann, den ich auf der Hinfahrt zu meinem Gepäckträger bestimmt hatte. Er schaffte meine Sachen zur Kleinbahn, mit der ich fahren musste, da die Division mir kein Fuhrwerk geben wollte. Die Fahrt dauerte 1 1/4 Stunde bei eisiger Kälte. Es lag eine leichte Schneedecke und fror tüchtig. Ziemlich steif kam ich in unsrer Metropole an und ließ von der Außenwehr Süd meine Sachen ins Wachlokal schaffen und instruierte den Wachhabenden, frühmorgens das Gepäck auf die Lore zu schmeißen, die unsrer Kompanie den Kaffee rauffährt. So hatte ich das Zeug um 7 Uhr in meinem Unterstand. Es war 1/2 3 Uhr, als ich in meiner Behausung eintraf. Ich fand sehr viel Post vor. … Gerhart schrieb herzlich, er bat mich um 50 Mark, bitte ihm das Geld sofort in meinem Namen zu schicken. … Über die Torte und die Ente freuten die Herren sich sehr. Überhaupt verfehlte die prompte Erledigung meiner Einkäufe ihre Wirkung nicht. Die Stiefel werden sehr bewundert. …

Dann wurde über die neuen Gasmasken instruiert, eine famose Erfindung, die uns die Gegner nicht nachmachen können. Sie werden jedem einzeln verpasst, ob sie fest, d.h. luftdicht schließen. Die Luft bezieht man aus einer Kalipatrone. Die Maske schützt auch die Augen und ist so faltig, dass man sich leicht die Brillengläser abputzen kann. Der ganze Apparat ist in einer Tasche drin, die nach Form und Größe einer Botanisiertrommel oder Butterbrot-Büchse ähnlich sieht. … Um 6 Uhr abends zog ich auf Feldwache als wachhabender Offizier. Die „Feldwache“ ist ein vorspringendes Grabenstück, das bei feindlichen Angriffen gehalten werden muss. Deshalb befindet sich dort Tag und Nacht eine gefechtsbereite Schar, eine Wache von 30 Mann und, weil es eben so wichtig ist, ein Offizier, der die Posten der gesamten Kompanie zu revidieren hat … Hier befindet sich das Telefon und ein Telefonist. … In der Nacht melden mir die abgelösten Posten jede 2 Stunden, was sie beobachtet haben. Ich revidiere 3 Mal nachts. Man belehrt, tadelt und muntert die Leute auf, und sucht ihnen den öden Wachbetrieb interessant zu machen. … Die ganze Sache macht mir großen Spaß. In den Postenbetrieb bin ich ja vom Hauptmann genügend eingeweiht. Es ist wieder was Militärisches. Man überlegt sich, wie man die Stellung halten will und alles Mögliche für einen Angriff vorbereitet ist. Am Tage musste ich mich um die Arbeiten im Zug kümmern, dass der Rost von den Schienen, die einbetoniert werden, abgewischt wird, da es sonst nicht abbindet, und anderen Krempel (Schotter). … Es ist doch schön für mich, dass ich schon einen Beruf und festen Wirkungskreis habe. Ich glaube, dass ich mit den Leuten gut umgehen kann. Das ist mir die Hauptsache, dann erst kommt der Umgang mit den Vorgesetzten. …

Der Aufenthalt in S<aarbrücken> war herrlich. Ich werde jetzt doppelt so gut durchhalten. Ich komme leider noch mit Wünschen. Bitte einen großen Abreißkalender, Kissenbezug … Ich finde, dass der Postenbetrieb bei der 10. Kompanie bedeutend schärfer gehandhabt wird. Ich muss mir hier die Leute erst erziehen im Sinne des Hauptmanns. –

Prof. Littmann schrieb mir sehr herzlich und sandte mir ein vorzügliches Bild von Nöldeke[1], das ich oft betrachte. Er ist als Gelehrter mein Vorbild und ich fühle mich als seinen Schüler. Wenn der Krieg es verhindert hätte, dass ich noch einmal seinen Unterricht genieße, wäre das schrecklich. Vorläufig habe ich aber Wichtigeres zu tun, mich um Schotter, Schienen, Sand u.a zu kümmern.

Heute Nacht hatte der Mond einen Hof. Jetzt taut und regnet es. Wir können also wieder betonieren.

Viele Grüße an Elli,

W.

[1] Nöldeke, Theodor (1836-1930), Orientalist.

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