28.X.1914 „Ja bei Gott, Ihr könnt Euch nicht klarmachen, wie furchtbar der Krieg ist“

Wolfgang Husserl an M. und E. Husserl, 28. X. 1914

Liebe Eltern!

Heute ist Ruhetag, d.h. wir befinden uns in einem größeren Gehöft, einige 100 Meter hinter der Schützenlinie, zwölf Stunden, um zu schlafen und zu essen. Eben war die langersehnte Feldküche, oder, wie wir sie nennen, die Gulaschkanone da, die uns großartig versorgte.

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Feldküche

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Posten in der Nacht

Unser Leben war in der letzten Zeit ziemlich anstrengend, in der Nacht kaum Schlaf, am Tage schanzen. Sich aus der Stellung vorzuwagen, ist der Feind zu feige, nur in der Nacht und da kommt es dann zu unglaublichen Schießereien, die aber nutz- und zwecklos sind, da der Gegner kein Ziel hat. Wir erwidern das Feuer nur, wenn wir ihn an einer vom Tage her bekannten Stelle vermuten. So liegt man sich tagelang gegenüber, ohne dass es zu einer Entscheidung kommt. … Als Artilleriedeckung mussten wir jede Nacht Posten stehen (Doppelposten). Ich war da immer mit G<erhart> zusammen. Wir haben uns sehr eng aneinander angeschlossen. So Postenstehen ist höchst spannend und romantisch. In der Nacht geht ja immer die große Schießerei los, die Kanonen hinter einem schweigen auch nicht. Oft genug umpfeifen einen die Kugeln, riesige Feuerbrände erhellen den Horizont, das sind unverlöschliche Eindrücke. Das Schlafen bei Mutter Grün ist, wenn man Stroh genug hat, erträglich, wir schlafen natürlich umgeschnallt, Tornister-Kopfkissen, an alles gewöhnt man sich. Wir freuten uns wie toll, als wir zur Kompanie, die in Schützenlinie lag, zurückkehrten. Wie haben sich aber alle verändert, der Gesichtsausdruck zeigt das. Die Augen, weit aufgerissen, spiegeln das Grässliche wider, was sie gesehen. Ja bei Gott, Ihr könnt Euch nicht klarmachen, wie furchtbar der Krieg ist. Es ist die schwerste Geißel, mit der der Himmel die Menschen strafen kann. Dies Gefühl haben alle. Wir kämpfen, damit dieser Graus ein Ende nehme. Denkt Euch doch, nach einigen Tagen ist die Kompanie auf die Hälfte ihres Bestandes gesunken. Einzelheiten kann ich Euch nicht schildern. Was ich noch sagen wollte, der eine Feldwebel ist ganz famos. Als wir unter seinem Kommando standen, hat er alle Lebensmittel höchst gerecht verteilt, was eine große Kunst ist, wenn auf jeden Menschen 4 Quadratzentimeter Brot entfällt oder gar keins. Dann hat er nie Angst, duckt sich nie vor Geschossen; wenn man das sieht, wird man kolossal ermutigt. … Von den schrecklichen Anstrengungen und Sorgen ist der Oberleutnant nervös zusammengebrochen, auch wegen dem gänzlichen Mangel an Schlaf. Er ist übrigens Hauptmann geworden. Unsre Kompanie führt ein Leutnant des Marineinfanteriebataillons, das direkt neben uns liegt (blaue Uniform die Leute, die Offiziere graue). Ich schreibe etwas planlos, eben alles, was mir einfällt.

Gehöft bei Langemarck
Gehöft bei Langemarck

Unser größter Schrecken sind die feindlichen Flieger, die uns schon großen Schaden getan haben. Jetzt hat unser Korps endlich auch drei bekommen und schweres Geschütz. Die Geschosse sausen nicht schlecht und werden Reiseonkels genannt.

Flandern ist eine merkwürdige Gegend, sehr unübersichtlich, Gehöft neben Gehöft, Landstraßen von riesenhaften Pappeln eingefasst. Wunderschön sind die Gehöfte innen und sehr stilvoll, ein Kamin und ein Gesims von Ziertellern fehlen niemals, auch das kleinste zeugt von Wohlstand. Aber alles so nach Esssachen durchwühlt. Türen eingeschlagen. …

Durch die Post von Euch erhalten: 2 Sendungen Schokolade und Fußlappen, 2 Kriegschroniken, ein Pack Zeitungen, Briefe vom 14.-19. Oktober. Vielen, vielen Dank für alles. Schickt bitte keine Fußlappen, Ausrüstungsgegenstände holt man sich aus den Tornistern von Toten. Oestr. Zigarets, Tabak, schöne bunte Taschentücher, Postkarten.

Wolfgang

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